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Schweizer Fachzeitschrift
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Energiebilanz

Die meisten heutigen Probleme, ob zwischenmenschliche, gesellschaftliche oder fachtechnische, lassen sich auf eine gemeinsame Ursache zurückführen: Verkehr, neudeutsch Traffic. Eine Bilanz.

Ralf Turtschi Ich bin froh, dass ich vor der nächsten Überflussinitiative nationalkonservativer Kreise «Mundartschreibweise in den Fachmedien» noch in Standardsprache lästern kann. Mä chan ja jederziit 15 Prozänt Dialäkt inemische, oder? Die Initiativflut und der zahlreiche direktdemokratische Traffic überfordern mich. Ich will nicht alle vier Jahre wählen und jeden Monat zusätzlich Hunderte von Kombinationsmöglichkeiten des Ankreuzens auf Abstimmungsunterlagen ausloten müssen. Wenn gar die nächste Initiative die Randsteinhöhe auf behindertengerechte 3 cm normieren will, dänn isch ändgültig zvil Heu dunne. Der demokratische Verkehr kann auch zermürben. Wenn die Classe politique inklusive Scheinopposition nichts entscheiden will, warum muss ich dann wählen gehen? Lasst uns eine Initiative starten, um den Bund abzuschaffen! … Ja, wenn wir doch sowieso alles souverän bestimmen sollen, dann brauchts die da oben nicht mehr, oder? Allerdings ginge dann auch die Bundessteuer bachab. Und die Tabaksteuer. Und die Alkohol­steuer. Und die Benzinsteuer. Die Autobahnen würden verganden und das Eisenbahnnetz bis auf die Rhätische Bahn verkümmern. Na und? Auf einen Schlag hätten wir alle gesellschaftlichen Probleme gelöst. Wir leiden unter Traffic jeglicher Art. Die Siedlungs- und Steuerpolitik treibt Arbeitsplatz und Wohnort auseinander. Die immer grösseren Arbeitswege werden durch immer schnellere Verkehrsverbindungen erschlossen. Pendler sind eigentliche Energiefresser. Es ist wesentlich umweltschädlicher, jeden Tag 2. Klasse von Basel nach Zürich zu pendeln, als mit dem Auto (Energieeffizienz­kategorie A) von Wiesendangen nach Winter-thur zu fahren. Am schaurigsten sind Pendler, die Gratiszeitungen lesen, denn diese verdrecken nicht nur das Abteil, sie vermüllen auch das Hirn. Die Energie für den Zug und die Coiffeurheftli der Fahrenden kommt von den neuen CO2-Schleudern, die in Form von Axpo-Gaskraftwerken undercover in Frankreich gebaut werden. Die Übergangsenergie­erzeugung Kernkraft wird ersetzt durch die neue Übergangslösung Gaskraftwerke + Ablasshandel. Alles nur, weil wenige Betreiberfirmen mit billigem Strom den Verschwendungsmotor am Leben erhalten wollen und mega daran verdienen. Die Übergangspolitiker sind offenbar nicht in der Lage, vernetzt zu denken, sonst hätten sie schon längst die Frak­tion Smart Grid ins Leben gerufen, bei der es nicht drei Jahre dauert, bis eine geistige Einspeisung wirksam wird.

Energie ist so billig, dass wir sie wie Luft und Wasser als selbstverständlich voraussetzen. Kein Gedanke beim Lichteinschalten, kein Reflektieren vor dem Benutzen des ­Handys, kein Nachdenken beim Spülen des WC. Warum ist das so? Weil Energie viel zu billig ist. Wenn das Benzin zehn Franken pro Liter kosten würde, würde ich meine 7 km Arbeitsweg wohl öfter mit dem Fahrrad bewältigen. Wenn das GA 20 000 Franken kostete, würden die Pendler näher zum Arbeitsort ziehen. Wenn Diesel und Kerosin zehnmal teurer wären, würden wir im März keine Erdbeeren und Spargeln mehr geniessen, sondern Grossmutters Eingemachtes und Schnitzel vom Hof, nicht vom 50 km entfernten Aldi, und in Lampedusa landeten nur noch die vermögenden Boatpeople, ganz im Sinn der schweizerischen Migrationspolitik.

Der Konsumdruck, nämlich sämtliche Produkte im marktwirtschaftlichen Wettbewerb immer billiger zu erhalten, führt automatisch zur Auslagerung von Arbeitsplätzen Richtung Billigstandorte. Die grössten Transportwege lohnen sich, weil Energie günstig zur Verfügung steht. Der Konsumsegen zeigt hier seine hässlichste Fratze. Die hochgetrimmte Marktwirtschaft leidet an Krebs, sie frisst die Natur und zersetzt die Menschen.

Billige Energie gestattet Papierfabriken, Medienunternehmen und Vervielfältigern ein gutes Auskommen in der Verschwendungsgesellschaft. Unnützer Traffic im Internet, wo Hits und Views ohne nachhaltige und qualitative Aspekte das Mass aller Dinge sind. Ein Grossteil der täglichen Newsflut haben für mich null Relevanz. Strauss-Kahns, Schwarzeneggers, Clintons oder Beckers Sexleben füllen ganze Seiten, sie bedienen voyeuristisches Gaffertum zum lustvollen Zeittotschlagen. Traffic entsteht, indem der eine des andern Nachrichten kolportiert. An wie viele Meldungen erinnern Sie sich, wenn Sie die «Tagesschau» gesehen haben? An keine? Dann sehen Sie «10vor10», dort kommt praktisch das Gleiche nochmal, das sie schon im Internet oder im Radio gehört haben. Mit dem gleichen Resultat: Am nächsten Morgen ists aus dem Speicher gelöscht. Traffic über Traffic.

Der klimaneutrale Druck von bescheidenem Informationswert ist so scheinheilig wie das Weitpendeln mit dem Zug. Warum muss ich mit dem «Tages-Anzeiger»-Abo jeden Montag eine ­englischsprachi­ge 8-Seiten-Beilage der «New York Times» ertragen, welche die amerikanische Sicht der Dinge erklärt? Warum muss ich mir seit 30 Jahren den Stellenanzeiger antun, der unbesehen auf dem Stapel landet? Warum das grottenhässliche Magazin, das ich meinem Schöngeist nicht zumuten mag? Weil billige Energie zur Verfügung steht! Die News­inhalte nähern sich im Nutzen dem lästigen Spam an. Das Hirn mit oberflächlicher Irrelevanz am Denken zu hindern, ist jedoch die Freiheit des Einzelnen. Erkenntnisreiches aus dem Angebot herauszupicken, braucht persönliche Energie, die wegen der Vermüllung oft nicht zur Verfügung steht. Das isch würkli ’s letscht, isch doch wahr.